Carolabrücke Dresden – Fluch oder Chance?
Die Elbe ist das Herz Dresdens, und das Gesicht der Stadt sind ihre Brücken. Ohne sie wäre Dresden nicht lebensfähig. Der Einsturz der Carolabrücke, sozusagen der „Infarkt“ der Hauptschlagader der städtischen Mobilität, trifft die Stadt und ihre Bewohner daher besonders schwer. Umso dringlicher ist der Ruf nach rascher Heilung – nach einer schnellen Beseitigung des Traumas und der Wiederherstellung des gewohnten Zustands.
Angesichts der aktuellen Zwangslage, in der ein kurzfristiger Ersatz nicht absehbar ist, möchten wir die Forderung nach einer Eins-zu-eins-Wiederherstellung kritisch hinterfragen. War der frühere Zustand tatsächlich so ideal? War es wirklich sinnvoll, einen großen Teil des Autoverkehrs über eine einzelne Brücke im Herzen des historischen Zentrums zu leiten? Diese Konzentration auf die Carolabrücke hat zusätzlichen Durchgangsverkehr angezogen und führte, trotz der großdimensionierten Straßenräume, täglich zu Verkehrsinfarkten in Form von Staus. Den Großteil des Tages wiederum bleiben diese weitläufigen Verkehrsflächen weitgehend ungenutzt und sind unbrauchbar für andere städtische Nutzungen außer dem Autoverkehr. Zentrale Plätze, Straßen und auch Parkanlagen wirken unattraktiv, werden kaum wahrgenommen und verkommen zu Randbereichen neben den Verkehrstrassen.
Neustädter Markt, Carolaplatz, Altstädter Ring, Petersburger Straße, Pirnaischer Platz, Budapester Straße, Sachsenplatz, Terrassenufer, Rathenauplatz, Leipziger Tor, Dippoldiswalder Platz, Bürgerwiese, Hainstraße, Große Meißner Straße, Georgplatz, Rathausplatz, Albertstraße ... all das sind klangvolle Namen. Aber was haben Sie im Sinn, wenn Sie diese hören oder an diese Orte in Dresden denken? Schöne Plätze, lebendige Boulevards, erholsame Parks? Leben, Genuss, Entspannung, Erlebnisse und ein harmonisches und selbstverständliches Miteinander von Verkehr und Stadtleben? Leider werden Sie all das an anderen Orten suchen müssen. Selbst eigentlich wunderschöne und nahezu perfekte Anlagen wie der Albertplatz und der Palaisplatz laden kaum zum Verweilen ein – ein bedauerlicher und widersinniger Zustand.
Vielleicht entpuppt sich der Brückeneinsturz, bei dem glücklicherweise niemand verletzt wurde, nicht nur als Unglück, sondern auch als Chance für die zukünftige Entwicklung Dresdens, seines Mobilitätsnetzes und seiner innerstädtischen Räume. Dieser ‚ungeplante Verkehrsversuch‘, der ohne das Unglück undenkbar gewesen wäre, bietet jetzt das Potenzial, auch in andere Richtungen zu denken.
Was also tun? Eine neue Brücke muss her, das ist klar. Doch ihre Dimensionen sollten verträglicher sein als bisher. Eine Möglichkeit wäre, die bisherigen Funktionen auf den beiden noch bestehenden Brückenzügen zu organisieren, wobei die Zahl der Fahrspuren reduziert würde. Da das wahrscheinlich technisch nicht funktionieren wird, kommt auch ein kompletter Ersatzneubau in Frage. Dieser könnte sich an den Maßen der ersten Carolabrücke orientieren – in Breite, Höhe und Pfeilerzahl – und so einen würdigen, ausgewogenen „Rahmen“ für die Dresdner Altstadtsilhouette schaffen. Anstatt lediglich eine Durchfahrt für Autos zu sein, sollte die neue Brücke den Raum gleichberechtigt und angenehmer für alle Verkehrsteilnehmer gestalten.
Der Rückbau der „Verkehrsschneise“ würde eine gleichzeitige Stärkung des gesamtstädtischen Verkehrsnetzes, bestehend aus vier Ringen und zahlreichen Radialstraßen, erfordern. Dazu gehört auch, endlich alle Schwachstellen und Fehlstücke zu beseitigen – die Planungen dafür liegen bereits vor. Nun gilt es, die Netzplanungen zügig umzusetzen, was auch neue Brücken umfassen könnte. Zwar hat der langwierige Prozess um die Waldschlößchenbrücke das visionäre Denken in Sachen Elbquerungen gebremst, doch Dresden ist eine Stadt der Brücken. Deshalb sollten wir erneut über die Schließung des „Dritten Rings“ nachdenken, etwa durch eine Brücke von der Ostra nach Pieschen. Auch andere Verbindungen, mit und ohne Autoverkehr, wären denkbar – zum Beispiel vom Müntzer Platz zur Drachenschänke. Vorbilder für die Bauwerke könnten die Pariser Passerelle Simone-de-Beauvoir oder die Passerelle des Arts sein, die funktionale und ästhetische Bereicherungen für das Stadtbild sind. Eine vervollständigte Netzstruktur würde den Verkehr in Dresden effizienter und verträglicher machen – und das tägliche Chaos im Zentrum wäre Geschichte.
Diese Maßnahmen würden es ermöglichen, die breiten Verkehrsadern im Stadtzentrum in stadtgerechte Straßen mit angepassten Dimensionen und verträglichen Fahrgeschwindigkeiten umzuwandeln. Dadurch entstünden großzügige innerstädtische Flächen, die für die Neugestaltung und Aufwertung von Plätzen, Promenaden und Parks genutzt werden könnten. Das einzigartige Netz öffentlicher Räume, das dem städtebaulichen Gefüge Dresdens zugrunde liegt, würde (wieder)-belebt und für die Stadtbevölkerung erlebbar gemacht werden. Gleichzeitig würde ein bedeutender Beitrag zum klimaresilienten Stadtumbau geleistet. Der Verkehr wäre dann nicht mehr ein Störfaktor, sondern ein integrierter Bestandteil dieser Räume. So könnten neue, positive Konzepte von Stadt- und Verkehrsraum zur Normalität werden.
Kommen Sie mit auf eine kleine gedankliche Reise. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einem Kaffee an einem gemütlichen, kleinen Bistrotisch. Um Sie herum herrscht geschäftiges Treiben – Menschen, Bahnen, Autos, Lichter, Gelächter. Und während Sie das genießen, lassen Sie Ihre Gedanken zu den vielen neuen, wunderschönen Orten schweifen.
Das Bistro könnte sich in der umgestalteten Albertstraße, nahe der Neustädter Markthalle befinden. Vor Ihnen liegt der sanierte Archivplatz, hier findet neuerdings ein belebter Wochenmarkt statt. Die Markthalle, ein etwas in die Jahre gekommenes Relikt vergangener Zeiten, hat eine Renaissance erlebt. In der oberen Galerie lockt ein lebhafter Food Court und im Erdgeschoss finden sich zahlreiche neue Geschäfte, die dank der vielen neuen Bewohnerinnen und Bewohner der städtebaulich weiterentwickelten Inneren Neustadt gut florieren. Die Albertstraße, neu gestaltet mit Platanen und gesäumt von Läden und Restaurants in neuen und sanierten Gebäuden, steht ihren beiden schönen "Schwestern" im Dreistrahl des Albertplatzes, der Hauptstraße und der Königstraße, nun in nichts mehr nach.
Sie beschließen, weiter zum Carolaplatz zu spazieren – ja, den gibt es nun wirklich. Geschlossene Platzkanten und elegante Geschäfte in den Kolonnaden der Neubauten im Gegenüber der imposanten Ministerialbauten, bestimmen jetzt das Bild. Ihr Blick schweift die Köpkestraße entlang in Richtung Neustädter Markt. Statt einer lauten Verkehrsschneise sehen Sie nun schöne Stadtfassaden, einige davon detailgetreue
Rekonstruktionen im Königsufer-Projekt. Große, stattliche Alleebäume rahmen den Straßenraum ein und Sie ahnen den Neustädter Markt vor sich: In seiner vertrauten, großzügigen Gestalt aus den 70er-Jahren, mit den beiden Brunnen. Doch jetzt ist er saniert, kompakter gefasst und umgeben von hochwertigen Fassaden, die ihn als zentralen Stadtplatz neu definieren. Der Palaisplatz, ebenfalls saniert, ermöglicht es Ihnen mit seiner großzügigen ebenen Platzfläche nun mühelos und ohne störende Verkehrsströme oder bauliche Hindernisse vom Ausgang der Königstraße, vorbei an der imposanten Fontaine, direkt zum geöffneten Palais zu schlendern. Gemeinsam mit dem Carolaplatz und dem Neustädter Markt bildet er eine prächtige Abfolge von Plätzen. Auftakt der Sequenz bildet im Westen das Leipziger Tor, als dieses nun wieder erkennbar, da sein zweiter klassizistischer Torbau rekonstruiert wurde. Diese Platzsequenz ist in Verbindung mit dem ‚Achsendreistrahl‘ vom Albertplatz und im Gegenüber der weiten Elbwiesen einzigartig in Europa – eine harmonische und reiche Raumfolge von städtischer Eleganz zu natürlicher Landschaft.
Sie gehen über die neue Carolabrücke, die als eleganter, moderner Ingenieurbau die Grundstruktur ihrer ersten Vorgängerin aufgreift. Mit ihrem filigranen Tragwerk und flacheren Bögen fügt sie sich harmonisch in die Stadtsilhouette ein. Zu Fuß fühlen Sie sich hier wohler als auf der alten Brücke, die eher wie eine Autobahn wirkte. Sie verweilen, genießen den Blick auf die Altstadt und entdecken links ein neues Belvedere auf der Spitze der Brühlschen Terrasse. Schweift der Blick noch weiter, überrascht ein schwebendes, spiegelndes Dach auf hohen Stützen – ein Kunstpavillon, inspiriert vom L'Ombrière im Hafen von Marseille. Hier am neugestalteten Brückenkopf entstand anstelle von Fahrbahnen und großen Parkplatzflächen ein offenes Forum für Kunst und Kultur, das den Promenadenring um die Altstadt mit dem Terrassenufer verbindet. Gemeinsam mit der Synagoge bilden die neuen Bauten ein spannendes Pendant zum Theaterplatz und erweitern das berühmte ‚Gesicht der Stadt‘ über eine neu gestaltete Promenade am Terrassenufer bis hin zum Sachsenplatz, der am Kopf der Albertbrücke als belebter Stadtplatz und urbanes Zentrum der Johannstadt wiedererstanden ist.
Weiter geht es nun auf einem Sandweg, vorbei an den sanierten Sandsteinplastiken der alten Carolabrücke, in den neuen Promenadenring, der zwischen den bestehenden Lindenreihen des Altstadtrings verläuft. Die Fahrspuren der St. Petersburger Straße wurden zusammengelegt, um mehr Raum zum Flanieren zu schaffen. Auf Ihrem Weg entlang des Altstadtrings in Richtung Rathaus, sehen Sie viele neue Gebäude: die „Lingnerstadt“, prächtige Stadthäuser anstelle des ehemaligen Parkplatzes vor dem Polizeipräsidium und einen neuen Museumsbau am Dr.-Külz-Ring, der die angrenzenden Plätze klarer definiert. Am Georgplatz entstand durch Rückbau des weit aufgespannten Kreuzungsbereiches eine grüne Stadtoase, die Bürgerwiese und Promenadenring miteinander verbindet – nennen wir sie den Neuen Rathauspark.
Von der Ringpromenade führt eine Reihe breiter, für die Dresdner Innenstadt charakteristischer Radialstraßen in die Vorstädte. Die großen Straßenräume wurden umstrukturiert und gebündelt und die übrigen Flächen in langgestreckte Parklandschaften verwandelt, in denen das Regenwasser von Gebäuden und Straßenoberflächen geleitet wird und sie reich grünen und blühen lässt. Die Stadt eröFnet viele neue Wege ihren Spaziergang fortzusetzen – träumen Sie weiter und stellen Sie sich die vielen unentdeckten Schätze vor, die Dresden noch zu bieten hat.